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AutorenbildNadine

Autonome Kinder - selbstbestimmend und willensstark

Eigentlich hatte ich diesen Eltern-Newsletter schon längst abbestellt - meinte ich jedenfalls. Ich frage mich überhaupt, wie ich auf dieser Mailingliste gelandet bin, denn ich stehe so rein gar nicht auf Mainstream-Elternratgeber. Diese Tipps und Tricks sind bei meiner Tochter - wie Du lesen wirst - absolut nicht zielführend.

Als ich den Eltern-Newsletter von LetsFamily in den Papierkorb bewegen wollte, stolperte ich über den Titel "Autonome Kinder - wenn die Trotzphase nie endet". Da ich schon lange prophezeie, dass «unsere» Trotzphase nie enden wird, begann ich kritisch und doch mit einer Portion Neugier den Beitrag zu lesen.

Mit jedem gelesenen Satz wurden meine Augen feuchter, bis ich tränenüberflutet am Ende der dazugehörigen Kommentare angekommen bin.

Die Antwort auf mein WARUM.

Rückblende Doch mal ganz von vorne: Uns wird ihr klarer Blick und die wachsamen Augen, den sie seit dem Moment, als sie auf die Welt kam, immer in Erinnerung bleiben. Schon bald nach der Geburt durften wir feststellen, dass unsere Tochter kein «Anfänger-Baby» im Hinblick auf ihr Schlaf- und Schreiverhalten war (siehe meine Beiträge "Mein schreiendes Kind" und "Wenig Schläfer - schlaflose Eltern"), aber auch in anderen Zusammenhängen, weicht sie noch heute deutlich vom „Durchschnittskind“ ab. Mit knapp drei Monaten ass sie aus Eigeninitiative ihre erste Erdbeere. Drei Wochen später verschlang sie eine gekochte Kartoffel am Stück. Mit vier Monaten trank sie alleine aus einem Becher ohne Schnabel(!) mit zwei Henkel. Sie verweigerte Brei, stattdessen bevorzugte sie es, ganze Äpfel, Peperoni-Schnitze und Nudeln mit ihren Pilgern zu verdrücken (so kam ich zum Thema Breifrei, welches sicherlich auch einen Beitrag wert wäre). Mit neun Monaten begann sie zu kritzeln und hielt dabei den Stift im Drei-Punkte-Griff, ohne diesen je gezeigt bekommen zu haben. Ihr Müesli löffelte sie bereits selbständig aus, wehe dem, der ihr Hilfe anboten! Sie machte sich mit zwölf Monaten selber trocken. Mit 20 Monaten bat sie uns innständig die Windel ganz wegzulassen. Um den zweiten Geburtstag gab sie uns zu verstehen, dass sie nicht mehr im Gitterbett schlafen wollte. Zur selben Zeit kamen die überproportionalen und unstillbaren Wutanfälle hinzu. (Es sei hier vermerkt, dass ich all diese aufgelisteten Ereignisse unserer Tochter nicht frei aus Erinnerung niederschrieb. Alle Ereignisse sind mit Foto- oder Videobeweisen dokumentiert :-) ). Es ist ihre enorme Willensstärke, die ihre Entwicklung und das daraus folgende Verhalten steuert.

Mein Running-Gag ist stets: "ihr Trotzalter begann mit der Geburt und wird uns bis zu ihrem Auszug begleiten".

Besonders ihr Schlaf- und Schreiverhalten veranlasste mich anfangs nach Ursachen zu suchen. Mein Verstand benötigte einen Grund, warum mein Kind sich in diesen Belangen derart vom Durchschnitt unterschied. Auch in anderen Zusammenhängen fragte ich mich, warum mein Kind so anders tickt. Die Suche war erfolglos.

Stattdessen lernte ich, dass nicht alles negativ Empfundene eine Antwort braucht, um damit klar zu kommen. Viel mehr braucht es die Akzeptanz, die Situation so anzunehmen, wie sie ist. Kein Jagen nach dem Warum. Keine Analysen des Vergangenen, um Künftiges zu prophezeien. Einfach im Hier und Jetzt zu leben.

Ich gebe zu, es ist nicht einfach. Manchmal ist es sogar verdammt schwierig.

Wie sagt man doch so schön: Übung macht den Meister. Meine Tochter gibt mir täglich die Gelegenheit zu üben. In der Berufswelt würde ich mich in dieser Angelegenheit noch nicht als «Experte», aber sicher als «Professional» oder gar bald als «Senior» betiteln.

Zumal ich zwischenzeitlich mehr im Flow als am Jagen bin.

So fragte und suchte ich schon länger nicht mehr nach Antworten, warum unsere Tochter teils so immens kratzbürstig ist und warum keine der 08/15-Erziehungsratschläge funktionieren. Ich nahm sie so an, wie sie ist (selbstredend nicht immer so gelassen, wie das jetzt den Eindruck erweckt). Um Energiefresser zu meiden, liessen wir uns von unserer Intuition leiten. Wir machen es so, wie es für uns drei stimmig ist. Halt so ganz anders als alle anderen Familien um uns herum. Augen verdrehen, vorwurfsvolle Blicke sowie dumme Bemerkungen und Ratschläge von aussen zu kassieren, waren längst an der Tagesordnung. Situativ gewöhnten sich Mampi daran.

Zurück zum Text Zurück zum Text, der mich so berührte. Ich erkannte darin meine Tochter eins zu eins wieder. Ich war erstaunt, auf LetsFamily - einer kommerziellen Eltern-Ratgeber-Plattform - einen solch unkonventionellen Beitrag zu lesen. Er handelte von der neu geformten Begrifflichkeit der autonomen Kinder des im Juli 2019 verstorbenen Familientherapeuten Jesper Juul, der mir bis zu diesem Zeitpunkt nur durch sein gegründetes FamilyLab bekannt war. Doch dieser kurze Abriss über autonome Kinder genügte mir nicht. Ich wollte mehr über solche Kinder erfahren. Schnell stellte sich leider heraus, dass zu diesem Begriff noch sehr wenig Literatur zu finden ist. Das verwunderte mich grundsätzlich nicht, ansonsten hätte ich diesen in meiner Suchphase bestimmt längst aufgespürt.


Ich wartete sehnsüchtig auf Juul's letztes Buch "Dein selbstbestimmtes Kind: Unterstützung für Eltern, deren Kinder früh nach Autonomie streben.", welches im Januar 2020 erschien. Währenddessen las ich in seinem Buch „Elterncoaching. Gelassen erziehen“.

Im ersten Kapitel werden von Juul durchgeführte Coachings mit Eltern von willensstarken Kindern (so der Begriff von Juul damals) aufgezeichnet. Auch hier bekam ich nach jeder gelesenen Seite feuchtere Augen. Ich konnte es kaum fassen. Es gab da draussen doch auch andere Familien, die ähnliche Kinder haben, wie unsere Tochter eines ist. Gerade die Geschichten der neunmonatigen wilden Nina (vgl. Juul 2016, S.29-42) und der kleinen Jennifer, die nicht schlafen will (vgl. Juul 2016, S.55-68), rührten mich sehr.

So oft hatte ich das Gefühl nicht verstanden zu werden. So oft spürte ich, durch die Blume, dass man uns Eltern für unsere Situation verantwortlich machte. Sei es, dass wir zu wenig Konsequenz an den Tag legen und folglich aus der Sicht Aussenstehender nicht die «richtigen» Erziehungsmethoden anwenden würden. Sei es, dass wir aus deren Sicht einfach schlicht zu überfordert seien.

Wir konsultierten beinahe unzählige Fachexperten. Niemand sprach über willensstarke, selbstbestimmende oder autonome Kinder. So unbekannt ist dieses Thema also. Ich vermute schwer, dass in Praxen heute noch solche Kinder unter der Kategorie «kleine Tyrannen» abgestempelt und behandelt werden. Daher bin ich froh, dass wir jegliche Therapieformen fast immer rechtzeitig ausschlugen. Juul gab den Familien in seinen Coaching-Sitzungen jeweils konkrete, auf ihre Situation zugeschnittene, teils knappe, aber präzise Anregungen und Empfehlungen. Vieles hatten wir bereits intuitiv so gehandhabt, wie Juul riet, mit willensstarken Kindern umzugehen. Das war ein sehr erfüllendes Gefühl für meinen Mann und mich. Gleichwohl gab es uns weitere Impulse, die uns unterstützten, Situationen mit unserer Tochter zu deeskalieren. Ich fühlte mich durch Juul's Buch das erste Mal so richtig aufgehoben und verstanden.


Unsere autonome Tochter

Es ist schwierig hier konkrete Beispiele zu nennen, zumal viele Eltern antworten würden "das ist normal, das ist auch bei meinem Kind so". Nur Eltern, deren Kinder autonom sind, wissen, was es bedeutet, wenn ich schreibe "meine Tochter möchte einfach alles alleine und auf ihre Weise machen. Dabei kann sie nichts (sic!) von ihrem Weg abbringen". Es ist schlicht unmöglich, sie zu überreden, manipulieren oder gar zu bestechen. Ein Machtkampf kann Mampi nur verlieren. Wie integer und bei sich selbst sie ist, veranschaulicht dieses Beispiel: Meine Tochter liebt Eis heiss und innig. Ich glaube, sie könnte noch so satt sein, ein Eis würde sie immer essen, sei es auch nur ein Löffel davon. Also ist es sehr verlockend, Eis als «Zuckerbrot» einzusetzen. Fehlanzeige! Sie verzichtet lieber auf ihr Eis, anstatt sich die Socken (sie hasst gerade Socken) anzuziehen. Oder wenn ich sie darauf aufmerksam mache, dass sie nur ein Eis bekäme, wenn sie zuerst noch ein Stück Brot isst (weil sie wiedermal das Mittagessen verschmäht hatte), dann verzichtet sie eben freiwillig OHNE Aufstand auf Brot und Eis.

Für dieses Alter finde ich das eine sehr starke persönliche Leistung. Natürlich unternehme ich solche Bestechungsversuche schon lange nicht mehr. Sie haben einfach keinen Sinn und Zweck und stellen mich als Vorbild gegenüber meiner Tochter nur in die Lächerlichkeit.

So lassen wir sie einfach ihren Weg gehen. Ohne Socken (im Winter) mit leerem Magen aus dem Haus...Auch wenn es teils unpassend und unkonventionell ist. Es kommt niemand dabei zu Schaden. Höchstens vielleicht der alte Elternkonsens "Kinder müssen sich anpassen" - wie es Juul treffend nennt (vgl. Juul 2020, S.50).


Es könnte jetzt den Anschein wecken, dass unsere Tochter nach Lust und Laune alles machen darf. So ist es natürlich nicht. Wir als Eltern setzen die Leitplanken. In diesem Rahmen kann sie aber selber ihre Entscheidungen treffen. Selbstverständlich sind es Entscheidungen, die sie ohne Überforderung zu fällen vermag. Auf keinen Fall schieben wir Verantwortung ab, die sie noch nicht tragen kann.

Spannend ist dabei zu beobachten, dass es ihr nicht per se um den Entscheid geht, ob etwas gemacht wird, sondern eher darum, dass sie entscheiden will, wann es gemacht wird. Zähneputzen ist hierfür ein gutes Beispiel:

Für das Zähneputzen gibt es bei uns kein Pardon. Zähne werden immer geputzt. Nur funktioniert dies eben nicht mit einer elterlichen Anweisung im Stil von "So jetzt putzt Du Dir die Zähne" (auch wenn diese noch so zuvorkommend oder bestimmt - oder weiss der Geier was alles geraten wird - formuliert ist). Es funktioniert auch nicht, ihr schematisch aufzuzeigen, wann das Zähneputzen in etwa zeitlich geschehen sollte (beispielsweise nach dem Anziehen des Schlafanzuges). Zielführend ist nur, wenn man ihr sagt "ich will, dass Du Dir die Zähne putzt bevor Du schlafen gehst - wann Du es machst, spielt mir keine Rolle" und darauf den Kontakt zu ihr unterbricht (ein sehr weiser Rat von Juul, auf den ich noch kommen werde). Auf diese Weise kommt sie irgendwann während des Zu-Bett-Geh-Rituals, d.h. zwischen Verkündung der Schlafenszeit bis zur Gutenachtgeschichte vor dem Einschlafen mit der Zahnbürste angelaufen.

Fazit: Es geht nicht um die Wahlfreiheit, sondern um die Entscheidungsfreiheit. Diese Erkenntnis, welche ich selber machen durfte, wird in Juul's letztem Buch ebenfalls von einem Vater eines autonomen Kindes - inzwischen Teenager - aufgegriffen (vgl. Juul 2020, S.55-59). Der Brief dieses Vaters und dessen Beobachtungen überwältigten mich. Diese Zeilen hätten aus meiner Feder stammen können.


Was zeichnet autonome Kinder aus?

Es sind "Kinder, deren Streben nach Unabhängigkeit und Autonomie weit über das gewohnte Mass hinauszugehen scheint" (vgl. Juul 2020, S.9). Dabei ist kennzeichnend, dass das autonome Kind "von Geburt an auf sein Selbstbestimmungsrecht besteht und dadurch seine Eltern an ihrer Liebe und dem Wert ihrer Fürsorge zweifeln lässt" (vgl. Juul 2020, S.13). Diese zwei Sätze treffen den Nagel auf den Kopf. Genauso erleben wir unsere Tochter seit der Geburt an. Sie liess uns anfangs so oft zweifeln, ja sogar verzweifeln.


Juul beschreibt, dass das Charakteristische autonomen Kindern angeboren ist. Sie kommen bereits mit dieser Willensstärke zur Welt. Er fasste die wiederholt genannten Erlebnisse der Eltern von solchen Neugeborenen - welche ich bis auf den ersten Punkt bestätigen kann - wie folgt zusammen (vgl. Juul 2020, S.13-15):

  • Mütter von bereits mehreren Kindern stellen oft bereits in den letzten Monaten der Schwangerschaft fest, dass ihr Kind anders ist.

  • Autonome Kinder werden fast immer mit einem «fertigen» Körper und «reifen» Gesichtsausdruck geboren. D.h. Der Körper ist straff und zeigt bereits wohldefinierte Muskeln, dabei fehlt der Babyspeck. Die Babys schauen einem nach der Geburt mit klarem Blick an.

  • Das Verhalten dieser Kinder ist von Beginn an äusserst spezifisch. Dabei sind es oft keine Kuschelbabys, d.h. allzu viel Körperkontakt mögen sie nicht.


Bei der Selbstbestimmung dieser Kinder geht es dabei nicht um die "Wahlfreiheit, sondern um das Recht, zu den Angeboten und Forderungen ihrer Eltern Nein sagen zu dürfen" (vgl. Juul 2020, S.13). Es geht ihnen um das Recht, eigene Entscheidungen zu treffen, dabei lassen sie sich weder durch Bestrafung oder Belohnungen manipulieren (vgl. Juul 2020, S.13). Besonders das feine Sensorium für Widersprüche und mangelnde Authentizität sowie das aussergewöhnliche, integre Verhalten autonomer Kinder sind mitunter die Gründe, warum keine 08/15-Methoden fruchten, die den Eltern gerade in der «Trotzphase» nahegelegt werden (vgl. Juul 2020, S.21 und S.41-43). Man kann sagen, sie sind «pädagogik-resistent».


Im Gegensatz zu Kindern, die überall in der Gesellschaft anecken und von A bis Z versorgt werden wollen, sind autonome Kinder eine Herausforderung "nur" für die eigenen Eltern. So genannte «kleine Tyrannen» sind nicht autonom. Juul bezeichnet diese Kinder als vernachlässigt und führt das tyrannische Verhalten auf dessen Eltern zurück, die nach bestem Gewissen alle Bedürfnisse und Wünsche ihrer Kinder unmittelbar erfüllen, ohne dem Bewusstsein zwischen grundlegenden Bedürfnissen und aktuellen Wünschen zu unterscheiden (vgl. Juul 2020, S.15-16; Juul 2019, S.51-62). Zwar haben autonome Kinder genau dieselben Bedürfnisse wie alle anderen Kinder, jedoch ist kennzeichnend, dass sie selbst über den Zeitpunkt, Ort und Menge der «Befriedigungsmöglichkeit» bestimmen können müssen (vgl. Juul 2020, S.20). Es sei hier nochmals betont, dass es hier nicht um Wünsche, sondern um echte Bedürfnisse geht, wie beispielsweise körperliche Nähe, Nahrungsaufnahme oder Schlafenszeit.

Verhalten gegenüber autonomen Kindern

Um autonomen Kindern den Schmerz zu ersparen, einen geliebten Erwachsenen abweisen zu müssen, ist es aus Juul's Erkenntnissen zielführend den Kindern ein «Buffet» von geistiger und psychologischer «Nahrung» anzubieten, sei es schriftlich in Form einer Liste oder für Kleinkinder ein gezeichnetes Bild mit diversen Piktogrammen. Mit dem aufgezeigten Angebot wird dem Kind gesagt, dass es nun nach Herzenslust auswählen kann, wann immer es möchte. Angesichts der Tatsache, dass autonome Kinder ein ausgeprägtes Gespür und grossen Respekt vor den Grenzen anderer haben, braucht man sich als Eltern nicht zu sorgen, dass das Kind ein solches Angebot missbrauchen könnte. Besonders wichtig ist jedoch, sprachlich zwischen Lust und Wollen zu unterscheiden: also "Nimm Dir, was Du WILLST" nicht "worauf Du Lust hast". Es geht hierbei nicht um das Befriedigen des Lustprinzips, sondern des essenziellen Bedürfnisses nach Selbstbestimmung. Dabei stellt es zwischen dem autonomen Kind und des Erwachsenen Gleichwürdigkeit her (vgl. Juul 2020, S.20-21 und S.41-43).

Gleichwürdigkeit ist eine von Juul entwickelte Begrifflichkeit. Im Zusammenhang mit der Eltern-Kinder-Beziehung meint er "von gleicher Würde, aber eben nicht gleich. Eltern und Kinder, argumentierte er stets, sind nicht «gleich», weil die Eltern die Führungsrolle innehaben, über mehr Lebenserfahrung verfügen und die Verantwortung für die Qualität der Beziehung tragen." (vgl. Juul 2020, S.170)


Gleichzeitig vereinfacht eine klare, erwachsene Sprache das Zusammenleben mit autonomen Kindern. Juul meint dabei keine akademische oder distanzierte, sondern eine persönliche Sprache. Die persönliche Sprache ist diejenige, welche die Werte, Gedanken und Gefühle in der jeweiligen Situation zum Ausdruck bringt. Hierbei kann man vom autonomen Kind profitieren, denn die meisten Aussagen beginnen mit denselben Worten, wie sie ein Kind benutzt, um zu definieren, wer es ist und was es will:


Ich will - ich will nicht

Ich mag - ich mag nicht

Ich finde - ich finde nicht

Ich meine - ich meine nicht


Die Sprache gewinnt an Überzeugungskraft, wodurch Glaubwürdigkeit und gleichzeitig die Authentizität verstärkt wird. Dies ist im Übrigen für alle Formen von Beziehungen eine Zauberformel, um Sicherheit und Vertrauen zu schaffen (vgl. Juul 2020, S.25-27; Juul 2019: S.39-51).

Erfahrung anderer als Impuls

Der zweite Teil in Juul's Buch ist eine Fragesammlung von Eltern oder Personen, die in irgendeiner Art und Weise mit dem Thema autonomer Kinder in Berührung kamen. Der Elternbrief "Das Unverständnis der Verwandten" (vgl. Juul 2020, S.48-51) erinnert mich stark an unsere Erlebnisse. Juul antwortete diesen Eltern mit einem Rat, welchen ich bereits aus seinem Buch "Elterncoaching" kannte und oben im Beispiel mit dem Zähneputzen erwähnte. Es geht darum, wie man selbstbestimmende Kinder dazu zu bewegen kann, etwas Bestimmtes zu tun. Wie erwähnt, ist es fast chancenlos, das Kind dazu zu bringen etwas Bestimmtes zu einem bestimmten Zeitpunkt zu tun. Es ist vielmehr zielführend, dem Kind mit der persönlichen Sprache eine Ansage zu machen: „Ich will, dass du die Zähne putzt vor dem Schlafengehen. Du kannst es machen, wann du willst, aber ich will, dass du es tust.“ Anschliessend sollte der Kontakt zum Kind unterbrochen werden, beispielsweise indem man aus dem Zimmer geht. Warum konnte ich mir bis anhin nicht genau erklären, aber es funktionierte bei uns seit der ersten Stunde. Juul liefert die Erklärung dazu: Indem der Kontakt unterbrochen wird, wird kein weiterer Druck auf das Kind ausgeübt und es ist frei in seiner Entscheidung, wann es die Forderung umsetzt. Alles andere würde vom Kind als Manipulation empfunden und dementsprechend per se abgelehnt werden (vgl. Juul 2020, S.48-51; Juul 2019, S. 83). Diese Erkenntnis half mir ungemein mit meiner Tochter Dinge zu tun, welche zuvor in einem von mehreren Stunden andauernden Wutanfall und schliesslich vollends eskalierten (damit meine ich, dass auch ich zu guter Letzt ausrastete und selber einen Wutanfall bekam). So reserviere ich für alles, was unbedingt gemacht werden muss, einen Zeitraum, in welchem meine Tochter frei über den Zeitpunkt entscheiden kann. Zu 98 Prozent klappt dies einwandfrei und entspannt unser Zusammenleben.


Absolut berechtigt stellt sich irgendwann die Frage - so auch mir -, wessen Bedürfnisse wichtiger sind. Die des autonomen Kindes oder meine, als Mutter? Nach Juul sind beide gleich wichtig, doch situativ kann das eine oder andere wichtiger werden. Wenn ich mein eigenes Bedürfnis wichtiger einschätzte, war mir bis jetzt schleierhaft, wie ich dies meiner Tochter darlegen kann, ohne mit ihr dabei in einen Zwist zu kommen. Im gleichnamigen Elternbrief "Wessen Bedürfnisse sind wichtiger" (vgl. Juul 2020, S.129-131) antwortet Juul der Mutter mit einer konkreten, praktischen Vorgehensweise: Das Bedürfnis des Kindes soll bewusst wahrgenommen werden. Dann erklärt man dem Kind, dass man sein Bedürfnis erkannt hat, aber das eigene Bedürfnis nun wichtiger ist. Das kann in etwa so klingen: "Ich habe verstanden, dass Du jetzt gerne auf meinen Schoss sitzen möchtest, aber ich will jetzt zuerst meinen Salat essen und dann kannst Du auf meinen Schoss sitzen." Zu versuchen, das Kind durch ein Ablenkungsmanöver vom Bedürfnis abzulenken, ist wohl ein alter Elterntrick, aber kein besonders intelligenter. Autonome Kinder fallen auf so etwas nicht rein (vgl. Juul 2020, S.131-133). Mir ging ein Licht auf und ich wusste nun, wieso es mir nie gelang, unsere Tochter mit Ablenkungen aus einer verhexten Situation zu reissen. Ablenkung klappt bei autonomen Kindern einfach nicht.


In fast jeder Frage erkannte ich sicherlich eine Facette unserer Tochter wieder. Jede gelesene Antwort von Juul gab mir einen weiteren Impuls, um an mir selbst zu arbeiten.

(Autonome) Kinder als Impuls zur eigenen Persönlichkeitsentwicklung

Sowie ich täglich lerne etwas mehr im Flow zu sein, zeigt mir meine Tochter jeden Tag mein Spiegelbild. Sie spiegelt mir meine Tagesverfassung, aber auch was tief in meiner Seele vor sich geht. Ich finde und erkenne immer wieder Seiten an mir, an denen ich arbeiten kann. Ohne meine Tochter - bin ich überzeugt - hätte ich gerade meine destruktiven Seiten in diesem Leben vermutlich nicht erkannt. Zumal diese Seiten weniger an die Oberfläche kommen ohne an die eigenen Grenzen zu stossen (und ja: Kinder bringen einen immer wieder an die eigenen Grenzen). Und hätte ich sie erkannt, hätte ich diese vermutlich nicht anerkannt, um mich weiterzuentwickeln.

Meiner Meinung nach können wir Erwachsene ungemein viel von unseren Kindern lernen. Ich durfte diese Erfahrung bereits tausend Mal erleben, daher wird es mir ganz warm ums Herz, wenn ich das Zitat von Juul (vgl. 2020, S.184) lese: "Wenn ich Kinder als kompetent bezeichne, dann meine ich damit, dass wir wichtige Dinge von ihnen lernen können. Dass sie uns durch ihre Reaktionen ermöglichen, unsere verlorene Kompetenz wiederzugewinnen und unsere unfruchtbaren, lieblosen und destruktiven Handlungsmuster loszuwerden. Wir müssen zu einer Form des Dialogs finden, den viele Erwachsene auch untereinander nicht beherrschen."

Dabei spielt das ebenfalls von Juul kreierte Wort Selbstgefühl eine wichtige Rolle. Juul (vgl. 2020, S. 176) definiert Selbstgefühl wie folgt:

Das Selbstgefühl hat eine quantitative und qualitative Dimension. In der quantitativen Dimension geht es darum, wie viel man über sich selbst weiss. Wie eigene Gefühle, innere und äussere Verhaltensmuster, Gedanken und Werte. Die quantitative Dimension kann zu jedem Lebenszeitpunkt entwickelt werden. In der qualitativen Dimension geht es darum, wie man mit dem Wissen über sich selbst umgeht. Wie man sich emotional und intellektuell auf das bezieht, was man über sich selbst weiss. Wie beispielsweise Selbstkritik, Scham- und Schuldgefühle. Ein gesundes Selbstgefühl liegt vor, wenn man sich mit allen Stärken und Schwächen grösstenteils so akzeptiert, wie man ist. Dabei spielt gerade die quantitative Dimension für Kinder eine wichtige Rolle. Sie müssen lernen ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Dies können sie aber nur wenn die Eltern und das Umfeld alle Gefühle mit Empathie begrüssen, anerkennen und respektieren.


Dies wiederum setzt Eltern voraus, die sich echt dafür interessieren, was Kinder wirklich denken und fühlen. Denn viele "interessieren sich mehr dafür, wie Kinder zu denken und fühlen haben" (vgl. Juul 2020, S.175). Oft sind es diejenigen Eltern, die gegenüber Kindern keine Gefühle zeigen (können). Kindern Gefühle zu zeigen, damit sind nicht nur positive Gefühle gemeint, ist für die Entwicklung ihres Selbstgefühls und damit für ihre allgemeine Entwicklung enorm wichtig:

"Man darf als Eltern durchaus weinen, schreien, toben. Man darf das Kind nur nicht verletzen und kränken. Neoromantiker [Anm.: auch Helikopter-Eltern genannt, die nur eines wollen: glückliche Kinder] glauben, ihre Gefühle schaden dem Kind. Aber die Abwesenheit von Gefühlen schadet dem Kind!" (vgl. Juul 2020, S.185)


Für mich ist gerade der Umgang mit negativen Gefühlen in einer Auseinandersetzung mit meiner Tochter besonders schwierig. Genau deshalb, weil sie mich mit ihrer willensstarken und selbstbestimmten Art mich sehr gut verletzen kann. Ich ertappe mich oft dabei, dass ich just dann versuche sie mit manipulativen Handlungen zu besänftigen, damit ich selber durch meine Wut ihr gegenüber nicht verletzend werde. Natürlich funktioniert diese Masche nie.


An dieser Stelle möchte ich nochmals Juul's (vgl. 2020, S.38) Feststellung erwähnen, dass autonome Kinder so geboren sind und alle Versuche sie liebevoll pädagogisch und therapeutisch zu manipulieren zum Scheitern verurteilt sind. Anstatt zu versuchen, das Gegenüber zu verändern und letztendlich zu verlieren, ist es viel lebenswerter von diesem zu lernen und dabei sich selbst in seiner eigenen Persönlichkeit weiterzuentwickeln.

Unsere Gesellschaft kann gerade von solchen Kindern sehr viel zur Anwendung der Gleichwürdigkeit lernen und davon profitieren. "Denn wenn in der Keimzelle der Gesellschaft - der Familie - immer mehr Gleichwürdigkeit praktiziert wird, wird das unsere Gesellschaft in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren spürbar verändern. Weil Erziehung eben Gesinnung prägt, wie der deutsche Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster darlegt." (vgl. Juul 2020, S.171).


Kurz zusammengefasst

Autonome Kinder sind:

  • selbstbestimmend

  • willensstark

  • stets integer

  • pädagogik-resistent

  • eine Herausforderung (nur) für die Eltern


Autonome Kinder sind NICHT:

  • manipulierbar

  • bestechlich

  • krank


Sie sind wie sie sind!


Es ist unsere elterliche Aufgabe mit ihnen zu kommunizieren lernen, da sie eben anders ticken als die breite Masse. Dabei soll es keineswegs darum gehen, ob das Kind autonom ist, sondern wie mit ihm in Kontakt zu treten ist und eine intakte Beziehung aufgebaut werden kann, ohne das Gefühl zu vermitteln, mit ihm sei irgendetwas nicht in Ordnung (vgl. Juul 2020, S.10).


Es ist wichtig, dass Eltern von autonomen Kindern ihren gemeinsamen Weg in die Beziehung finden. Auch wenn dieser Weg teils so ganz anders ist als es die Gesellschaft erwartet. Es kann anfangs sehr ins Herz treffen als Eltern ohne Rückgrat dargestellt zu werden, dies sollte einen aber nicht weiter beeinflussen. Denn wie auch immer die Regeln innerhalb der Familie gestaltet werden, bemisst sich die Qualität von Eltern nicht nach den vorgegebenen Regeln gegenüber ihren Kindern, "sondern nach der Art ihrer Reaktion, wenn diese Regeln gebrochen werden" (vgl. Juul 2020, S.169). "Eltern müssen nicht konsequent sein, sondern glaubwürdig!" (vgl. Juul, S.174). So hat Juul viele althergebrachte Erziehungsprinzipien auf den Kopf gestellt. Seine Erkenntnis, dass es wichtiger ist, glaubwürdig anstatt konsequent zu sein, bildet die Basis, um überhaupt eine gleichwürdige Beziehung mit autonomen Kindern aufzubauen.

Und falls dem Kind doch Konsequenzen aufgezeigt werden müssen, dann nicht, weil man die Mutter oder der Vater ist, sondern deshalb, weil man als Elternteil über mehr Lebenserfahrung verfügt (vgl. Juul 2020, S.179). Dies ist ein Aspekt der Gleichwürdigkeit, den ich mir stark verinnerlicht habe, weil es schlichtweg eine Tatsache ist.

AHA-Erlebins

Jesper Juul's wichtigste Aussage: "Das Kind ist. Punkt", welche Mathias Voelchert im Vorwort (vgl. Juul 2020, S.9) so betont, rührte mich ebenfalls sehr. Für Juul ist es zweitrangig, warum sich manche Menschen auf eine bestimmte Art und Weise verhalten und erwähnt, dass selbst die klügsten Antworten auf diese Frage den betreffenden Personen noch lange nicht helfen einen Ausweg zu finden (vgl. Juul 2020, S.38).

Es bestätigt mein AHA-Erlebnis: Mit der Akzeptanz, dass meine Tochter so ist, wie sie ist, habe ich den Zugang zu ihr und ihrer Persönlichkeit gefunden. Zugleich stellte sich meine Suche nach Erklärungen ein.

Ich kümmere mich nicht mehr um das Warum und nehme die von Juul gesammelten Erkenntnissen über autonome Kinder dankend an. Sie liefern mir wertvolle Einsichten, die mir situativ den Umgang mit meiner kleinen Löwin zu erleichtern. Es gibt eben kein Patentrezept, erst recht nicht für willensstarke Kinder. Unabhängig, selbstbestimmend und integer, teils unzähmbar.

Mit vielen unerwarteten Überraschungen erlebe ich, wie sich mein Mädchen zu einem wunderbaren Menschen entwickelt.


Herzlichst

Nadine


Gedenkrede an Jesper Juul

Ich danke Ihnen für all die wertvollen Beiträge für Kindern, Eltern und somit für die gesamte Gesellschaft, die Sie als Familientherapeut und Autor geleistet haben. Obwohl ich nicht wusste, ob Sie überhaupt noch Elternbriefe beantworten, wollte ich Sie im 2019 persönlich kontaktieren. Leider war es dann zu spät. So sehr hätte ich Sie gerne persönlich kennengelernt. Sie inspirieren mich in meiner Persönlichkeitsentwicklung und Lebensgestaltung. Dafür möchte ich mich herzlichst bedanken.



Quellenangabe von Bücher und weiterführende Links/Bücher:


Geschrieben: 14. März 2020

Dieser Text ist meiner Familie gewidmet.


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