Beim Durchbruch des letzten Backenzahns meiner Tochter holten mich die Erinnerungen wieder ein. Wir durchlebten zwei harte Nächte, aber die waren Pipifax im Gegensatz zu dem, was wir permanent (sic!) während den ersten 540 Nächten (d.h. ersten 20 Monaten) mit unserer Tochter durchstehen mussten. Mein Flashback war jedoch Anlass genug, um dieses Thema hier aufzugreifen.
Intuitiv wollte ich diesen Beitrag anfänglich „Schlechte Schläfer - schlaflose Eltern“ betiteln. Bevor ich anfing für diesen Beitrag zu schreiben, habe ich einige Bücher, die ich zu diesem Thema als besonders wertvoll erachte, nochmals durchgeblättert. Als ich erneut im Buch von Renz-Polster „Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt.“ das Kapitel 4 „Wie Kinder schlafen lernen“ gelesen hatte, entschied ich mich bewusst das Wort „schlecht“ durch „wenig“ zu ersetzen. Warum? Die Schlafentwicklung und das Schlafverhalten unserer Tochter (obwohl sie in diesen Ausprägungen vermutlich eher selten sind) waren alles andere als ungewöhnlich oder abnormal. Aber wir Eltern werten es negativ, wenn der Kinderschlaf eben schlecht kompatibel mit dem eigenen Schlafverhalten und Alltagspflichten ist.
Ich musste bzw. durfte mich sehr früh mit dem Schlafverhalten von Säuglingen auseinandersetzen. Ausschlaggebend war, dass unsere Tochter sich plötzlich ab dem 15. Lebenstag nicht mehr horizontal hinlegen liess und extrem wenig sowie unruhig schlief (siehe auch meinen Beitrag „Mein schreiendes Kind“). Oft wurde ihr Schlaf mit unstillbaren Schreiattacken unterbrochen. Ich befürchte, mittlerweile alle auf dem Markt erhältlichen Bücher zum Thema Mensch und Schlaf gelesen zu haben.
Bereits vorweg meine wichtigste Erkenntnis: der Schlaf von uns Menschen ist determiniert. Wieviel Schlaf ein Mensch braucht, ist also genetisch festgelegt. Der persönliche Schlafbedarf ist sozusagen gegeben. Eine feste Grösse. Daran kann nicht „geschraubt“ werden. So gibt es Vielschläfer, die mehr Schlaf brauchen und Wenigschläfer, die wenig Schlaf benötigen, um das Tagesgeschehen zu verarbeiten. Sowohl bei Erwachsenen als auch bei Säuglingen. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass Neugeborene tagsüber nur trinken und schlafen, gibt es also tatsächlich Säuglinge, die bereits nach der Geburt extrem wenig Schlaf benötigen. Der Durchschnitt der Säuglinge schläft zwischen 16 bis 18 Stunden innert 24 Stunden. Unsere Tochter hatte damals einen maximalen Schlafbedarf von zwölf Stunden. Bedenkt man, dass ein Neugeborenes, um durch den Tag zukommen, mehrere Schläfchen braucht, dann bleibt bei einem Zwölf-Stunden-Schlafkontingent für den Nachtschlaf nicht mehr viel übrig. Dies wird schnell zu einem energiezehrenden Spiessroutenlauf, vor allem wenn die Eltern - wie mein Mann und ich - Vielschläfer sind: Akuter Schlafmangel vorprogrammiert.
Erste Phase (die ersten 5 Monate)
Kurzfristig gesehen war der Schlafmangel das kleinere Übel. Die wahre Folter war, dass Säuglinge über keinen regelmässigen Schlafrhythmus verfügen. In den wenigen Stunden, die uns für den Nachtschlaf übrigblieben, erwachte unsere Tochter begleitet von hochfrequentem Schreien durchschnittlich sechs Mal, um gestillt zu werden. Ich schlief insgesamt zwischen zwei bis drei Stunden pro Nacht, da es mir schwer fiel nach dem Stillen jeweils wieder in den Schlaf zu finden.
Ausserdem war der Einschlafprozess ab dem besagten 15. Lebenstag täglich eine Herausforderung. Trotz Müdigkeit war es plötzlich unter keinen Umständen mehr möglich unsere Tochter hinzulegen. Jede horizontale Lage lehnte sie ab, sei es das Bettchen, der Kinderwagen oder das Auto. Was ein Tag zuvor noch wunderbar klappte, wurde unmöglich und mit ihrem hochfrequenten teils unstillbaren Schreien quittiert. Wir lernten sie in den Schlaf zu "tragen". So walkten wir mit unserem knappen Acht-Kilo-Häufchen in der Tragehilfe bis zu zwei Stunden am Stück, ehe sie in den Schlaf fand. Gingen wir zu langsam wurde just mit Gebrüll darauf aufmerksam gemacht. Wenn sie dann endlich eingeschlafen war, bestand die grösste Herausforderung darin, unsere Tochter so sanft wie möglich aus der Tragehilfe herauszunehmen und sie, ohne dass sie wieder aufwachte, hinzulegen. War Mami oder Papi etwas zu unvorsichtig, hiess dies, erneut zwei Stunden auf Wanderschaft zu gehen. Zwei Monaten und 900'000 Schritte später (der Schrittzähler zeigte jeweils mindestens 15’000 Schritten pro Abend an) waren wir am Rande der Verzweiflung.
Per Zufall stiessen wir nach diesen zwei Monaten auf unseren Lebensretter: das Dondolo. Als ich nach einer Stillberatung im Spital meine Babytasche packen wollte und nicht wusste wohin mit meiner Tochter, sah ich in der Ecke des Beratungszimmers eine aufgehängte Ferderwiege. Ich legte meine übermüdete, nicht schlafen wollende Tochter kurzerhand hinein. Durch das etwas ruppige Hineinlegen wippte die Federwippe stark auf und ab. Meine Tochter erwiderte dies mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck, den ich bis anhin so eher selten sah. „Das gefällt Dir?“ murmelte ich ihr zu und wippte weiter. Innert drei Minuten waren ihre Augen geschlossen. Ich war baff. Zuhause organisierte ich sofort ein solches Dondolo (eines der bekannten Federwiegen-Marken), welches mein Mann am darauffolgenden Tag abholen konnte. Etwas skeptisch starteten wir einen weiteren Versuch: Tochter hineinlegen, wippen... nach zehn Minuten war sie wieder eingeschlafen. Auch alle weiteren Versuche klappten problemlos!
Zehn Minuten Wippen statt zwei Stunden Walken. Wir konnten unser Glück kaum fassen. Die Tagesschläfchen fanden ab diesem Zeitpunkt ausschliesslich im Dondolo statt, wobei nach exakt 45 Minuten unsere Tochter wieder wach war. Wir konnten effektiv die Uhr danach richten. Gelegentlich, wenn wir rechtzeitig nach 40 Minuten das Dondolo erneut zehn Minuten wippten, schaffte sie es in einen nächsten Schlafzyklus überzugehen und eine weitere Dreiviertelstunde zu schlafen. Diese zusätzlichen 45 Minuten fehlten jedoch im Nachtschlaf.
Für den Nachtschlaf wippten wir sie ebenfalls im Dondolo in den Schlaf. Mein Mann hatte jeweils von 22.00 Uhr bis Mitternacht „Wipp-Nachtwache“, was soviel bedeutete, dass er wippen musste, sobald die Kleine zeigte, dass sie nicht mehr in der Tiefschlafphase war, um den Nachtschlaf nicht zu unterbrechen. Nach Mitternacht, sobald sie sich sicher in einer Tiefschlafphase befand, hievte er sie sorgfältig hinaus und legte sie zu uns ins Elternbett, damit ich für das Stillen und Bestreiten im zweiten Teil der Nacht nicht aufstehen musste. Das war die erste Phase unserer Nachtgeschichten.
Zweite Phase (3 Monate)
Mit der Zeit störte mich das Schlafen zu Dritt in einem Bett. Es war nicht die Nähe zu meiner Tochter, im Gegenteil, ich war froh ihr so nah zu sein. Aber meine zwei Liebsten schafften es oft fast das ganze Bett für sich zu beanspruchen, so dass für mich kaum noch Platz übrig war. So entschlossen wir uns für ein Familienbett. Unser Elternbett wurde durch geeignete Paletten und drei 90er Matratzen ersetzt. Mit einer Bettbreite von 2,7 Metern war nun genug Platz für uns drei und die Situation entspannte sich leicht.
Doch es stresste mich sehr, dass unsere Tochter mit sieben Monaten noch immer ausschliesslich im Dondolo (oder beim Tragen, nicht aber in einem Bett, Kinderwagen oder Auto) einschlief.
Ich konnte beobachten, dass mit einem Fieberschub auch immer ein Entwicklungsschritt einher ging. Also beschloss ich an jenem Tag, als meine Tochter wieder einmal hoch fieberte, den Einschlafprozess im Familienbett zu starten. Es war ein Kampf: nach 40 Minuten, ein paar ausgerissenen Haaren und Kratzern am Arm, konnte ich schliesslich aus dem Schlafzimmer schleichen. Trotzdem hatte ich ein gutes Bauchgefühl, eine Intuition, und war fest überzeugt, dass JETZT der richtige Zeitpunkt war, den Einschlafprozess für den Nachtschlaf im Bett zu „lernen“.
Nach einem halben Monat legte sich das Fuchteln beim Einschlafen und wir kamen ohne Wehwehchen davon. Allerdings versechsfachte sich die Einschlafbegleitung. Neu dauerte es eine Stunde bis sie einschlief, manchmal sogar bis zu eineinhalb Stunden. Nach und nach legten wir sie auch für die Tagesschläfchen, welche sich zwischenzeitlich auf zwei reduziert hatten, zum Einschlafen aufs Bett. Schliesslich demontierten wir das Dondolo. Am Nachtschlaf änderte sich (leider) nichts. Zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr meldete sie sich mindestens fünf Mal mit schrillem Schreien, um gestillt zu werden.
Dritte Phase - der Tiefpunkt (12 Monate)
Bis dahin hatte ich noch nicht alle erdenkliche Literatur, die es zum Thema Babyschlaft gibt, verschlungen und setzte meine Hoffnung auf die empirischen Erkenntnisse von Remo H. Largo (2016: Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren, S.186-248): Etwa zwischen dem vierten bis sechsten Monat sollte sich ein erkennbarer regelmässiger Schlafrhythmus herauskristallisieren. Dabei werden die Wachzeiten des Säuglings allmählich länger und die vielen Tagesschläfchen nehmen kontinuierlich ab. Um den ersten Geburtstag herum, würde es sich meist auf ein Tagesschläfchen beschränken (oft Mittagsschlaf genannt). Obwohl der gesamte Schlafbedarf bis zum ersten Geburtstag ebenfalls kontinuierlich abnimmt und im Durchschnitt bei knapp 14 Stunden liegt, führt diese Entwicklung (meistens) zu einem längeren Nachtschlaf beziehungsweise weniger Wachphasen während der Nacht.
Ich wusste ja bereits, dass wir in jeglicher Hinsicht ein Kind mit starken Bedürfnissen haben und stellte mich daher darauf ein, dass ihre Schlafentwicklung noch etwas Zeit braucht. Doch was heisst "etwas Zeit"? Rückblickend ertappte ich mich, dass ich annahm, dass sich das Schlafen noch vor dem ersten Geburtstag einpendeln wird.
Im 9. Lebensmonat bekam unsere Tochter ihre ersten Zähne. Die Nächte wurden doppelt so anstrengend als sie bereits waren. Wobei von Nacht konnte eigentlich gar keine Rede mehr sein. Mit Nacht assoziiert man Schlafen. Wir aber durchlebten indes von Durchschreien begleitete Freinächte. Ich litt bereits vorher unter akutem Schlafmangel. Der Durchbruch der ersten Zähne war der Punkt, wo ich nervlich versagte. Man diagnostizierte bei mir (viel zu spät) eine postnatale Depression in Zusammenhang mit einer totalen Erschöpfung (siehe mein Beitrag „Mein schreiendes Kind“). Meine erste Massnahme war ein zehntägiger Aufenthalt im Ita Wegmann Mutter-Kind-Haus in Gempen. Dieses Mutter-Kind-Haus bietet Frauen mit postnatalen psychischen Erkrankungen oder starken Erschöpfungszuständen Entlastung, Pflege und liebevolle Begleitung. Meine Erschöpfungszustände konnten in nur zehn Tagen selbstredend nicht beseitigt werden. Eine Veränderung im Schlafrhythmus meiner Tochter war auch nicht zu erwarten. Doch schöpfte ich wieder neuen Mut und Zuversicht, alles auf die Reihe zu kriegen.
Leider erfuhr ich nicht den gewünschten Neustart in entspanntere Verhältnisse. Es war der Anfang einer Phase, die ich nie wieder erleben möchte.
Während des Aufenthalts im Mutter-Kind-Haus hatte sich meine Tochter auf Eigeninitiative tagsüber abgestillt und begann am Tisch zu essen (notabene kein Brei oder Mus - sie wollte stets dasselbe essen wie wir). Ich hoffte schwer, dass dies eine positive Auswirkung auf das nächtliche Stillen hatte oder dass wir bald mit dem Stillen ganz durch sind. Denn durch das vollständige Abstillen erhoffte ich mir bessere Nächte. Doch dann bekam ich eine heftige Angina und meine Milch versiegte. Anfangs realisierte ich dies gar nicht. Ich bemerkte nur, dass meine Tochter in der Nacht nicht nur stündlich, sondern halbstündlich an die Brust wollte. Als ich feststellte, dass ich keine Milch mehr hatte, wollte ich auf das Fläschchen umsteigen. Wieder stellte uns unsere Tochter vor eine Herausforderung. Jegliches Milchpulver wurde verschmäht. Ich versuchte es mit Soja-, Hafer-, Mandel- und Reismilch. Letztlich wurde Reismilch von meiner Tochter für gut befunden. Allerdings trank sie nie mehr als einen halben Deziliter, so dass wir ihr nachts im 15-Minuten-Takt das Fläschchen reichen durften. Schlafen konnte ich gar nicht mehr. Ich hatte zunehmend Mühe überhaupt noch einzuschlafen. Mein Mann übernahm jeweils den ersten Teil der Nacht, damit ich schlafen hätte können. In diesen Stunden war ich zwar nicht "in Charge" und hätte mich entspannen können, rechnete aber jederzeit damit, dass ich demnächst von lautem Geschrei aus dem Nebenzimmer aus dem Schlaf gerissen würde, was für mich eine grosse Qual war. Im Endeffekt entwickelte ich eine Art Angst vor dem Einschlafen. Schlafen war Horror und Nicht-Schlafen eine Folter. Mein Nervenkostüm war erneut hauchdünn. Wir rannten von Termin zu Termin mit etlichen Fachpersonen, die versuchten unsere Situation zu entspannen. Nach drei aufeinanderfolgenden Wochen mit maximal einer Stunde Nachtruhe, wohlbemerkt nicht am Stück, wurden wir durch eine auf Schreibaby- und Schlafberatung spezialisierte Fachperson in die Schreiambulanz überwiesen.
In der Schreiambulanz versuchte der zuständige Kinderarzt die Ursache des Schreiens festzustellen. Eine körperliche Indikation konnte jedoch ausgeschlossen werden. Daher war das Ziel des behandelnden Kinderarztes einen ruhigeren Nachtschlaf herbeizuführen, in der Hoffnung, das tägliche Schreien zu minimiere, um so den Nachtschlaf positiv zu beeinflussen. Dies sollte wiederum meiner Erschöpfung entgegenwirken und uns als Eltern insgesamt entlasten. Er sah den Auslöser der nächtlichen Unruhe in der Tatsache, dass unsere Tochter mit ihren elf Monaten nachts noch immer nach Milch verlangte. Gemäss medizinischen Erkenntnissen benötigt ein Baby ab dem sechsten Lebensmonat keine nächtlichen Nahrungsaufnahmen mehr. Er empfahl uns, unserer Tochter nächtliche Mahlzeiten zwischen 22.00 Uhr und 05.00 Uhr zu verweigern. Desweitern sollten wir sie in ihrem eigenen Bett schlafen lassen und sie beim Protestieren nur begleiten. Mit anderen Worten, wir sollten sie schreien lassen. Ein begleitetes Schreien lassen. Seiner Prognose zufolge würde unsere Tochter nach maximal fünf Nächten die Situation akzeptieren - sprich resignieren - und nicht mehr schreien. Eine etwas sanftere und abgewandelte Ferber-Methode? Bei mir klingelten alle Alarmglocken. Die Ferber-Methode ist meines Erachtens alles andere als kindswürdig. Doch in Anbetracht der verzweifelten Situation, in welcher wir uns befanden und vermehrt unter Druck unserer ebenso hilflosen Familie gerieten (nach dem Motto: "wir müssen uns doch von Fachexperten helfen lassen"), entschieden wir das vorgeschlagene Programm durchzuführen. Trotz einem mulmigen Gefühl wollten wir ein Zeichen setzen: Wir können Hilfe annehmen.
Heute bereuen wir diesen Entscheid.
Mit Gehörschutz ausgerüstet, wie es uns der Kinderarzt empfahl, starteten wir in die erste Nacht. Sie war weniger schlimm als erwartet. Doch die darauffolgenden Nächte waren schlimmer, herzzerreissend und absolut grenzwertig. Auch nach der fünften Nacht zeigte unsere Tochter keine Resignation. Wir brachen das Programm ab.
Eine Diskussion mit dem zuständigen Kinderarzt zum Thema High Need Babys gab uns dann der Anlass, dass dies unsere letzte Sprechstunde mit ihm sein wird. Seine Aussage: der Begriff High Need Baby sei "eine Wortschöpfung, die von Unwissenheit und Ratlosigkeit zeugt". Dies zeigte uns seine Uneinsichtigkeit und Inkompetenz zur Empathie. Somit brachen wir auch die ärztliche Begleitung ab.
Heute sage ich: zum Glück resignierte unsere Tochter damals nicht. Wer sich mit der Ferber-Methode auseinandergesetzt hat, weiss, dass die Methode die physischen und psychischen Bedürfnisse der Kinder durch den Impuls zur Resignation nur übersteuert - einer der drei Überlebens-Impulse des Menschen in Gefahr- und Stresssituationen. Wissenschaftlich ist umstritten, ob solche Schlafprogramme auf die kindliche Psyche einen negativen Einfluss haben. Dafür gibt es zu wenige Studien, die dies untersucht haben. Aber klar ist, dass durch diese Übersteuerung das eigentliche Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit unbefriedigt bleibt. Dies kann sich womöglich zu einem späteren Zeitpunkt äussern: „Befriedigte Bedürfnisse verschwinden von selbst, ignorierte tauchen immer wieder auf.“ (nach Dr. William Sears). Ich persönlich teile die Meinung von Renz-Polster, dass solche Schlafprogramme schädlich sind: „Wäre ein Kind in der langen Menschheitsgeschichte allein und ohne Protest unter einem Baum eingeschlafen, hätte es den nächsten Morgen nicht erlebt. Die direkte Nähe der Bezugspersonen war absolut lebenserhaltend“ (vgl. Spektrum der Wissenschaft (Hrsg.) 2019: Spektrum Kompakt - Babys: Die ersten Monate, S.46-50).
Dass uns von einigen Eltern meiner Generation zu dieser Methode geraten wurde, da sie anscheinend damit erfolgreich ihre Kinder zum Schlafen "nötigen" konnten, konsternierte mich. Schockierender war für mich jedoch, dass solche oder ähnliche Methoden von heutigen Kinderärzten empfohlen werden.
(Spannender Exkurs dazu: Wettbewerb ohne Knappheit: elternschafskultureller Wetteifer - Die Thematisierung von Kinderschlaf als kompetitiv-relationales Praxisfeld von Timo Heimerdinger im Buch Auf den Spuren der Konkurrenz. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektive, S.105-120. Vielleicht steht dies im Zusammenhang, dass auch heute Eltern noch "ferbern".)
Durch die geschilderte Erfahrung setzte ich mich selber noch intensiver mit dem Thema Mensch und Schlaf auseinander. Zugleich lernte ich auch Mütter kennen, die mit dem Kinderschlaf ähnlich herausfordernde Erfahrungen gemacht haben. So bin ich unter anderem auf das Stichwortverzeichnis des Blogs "das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten - treibt mich in den Wahnsinn" gestossen. Insbesondere der Artikel "Durchschlafen - wann schläft mein Baby endlich durch?" bestärkte mich, meiner Intuition zu vertrauen, dass mein Kind von selbst mit der nächtlichen Nahrungsaufnahme aufhören wird, wann es entwicklungstechnisch soweit ist. Ich verliess mich von nun an darauf, dass meine Tochter eines Nachts kein Fläschchen mehr einfordern wird. Wie es viele andere Mütter, die auch kein "nach sechs Wochen hat es durchgeschlafen"-Kind und eine dementsprechend eher langwierige Kinderschlafgeschichte hinter sich hatten, erlebt haben.
Zu unserem Leid nahm ihr Schlafbedarf bis zum dreizehnten Lebensmonate um zwei weitere Stunden ab. Unsere einjährige Tochter brauchte tatsächlich nur zehn Stunden Schlaf pro Tag (d.h. innert 24h), wovon 45min bis anderthalb Stunden für das Mittagsschläfchen draufgingen. Will heissen, für den Nachtschlaf blieben gerade mal achteinhalb bis neun Stunden übrig. Wenn familie also den Tag nicht um 5.00 Uhr beginnen wollte, dann durfte ihre Bettruhe frühestens um 22.00 Uhr angesetzt werden (vgl. Renz-Polster 2015, S.106).
Also nichts mit Zweisamkeit am Abend für uns Vielschläfer-Eltern. Wir brauchten den Schlaf dringend und zogen das Bett dem gemütlichen Abend zu zweit vor. Es war wichtige, dass wir so viel wie möglich schlafen konnten, um ihre Wachzeiten, sowohl tagsüber als auch nachts, mit einigermassen stabilen Nerven zu überstehen.
In ihrem zweiten Lebensjahr zeigte sich immer noch keinen erkennbaren Schlafrhythmus. Wir durchlebten stets fünf- bis zehnmaliges Erwachen. Meisten durch unstillbare Schreiattacken, manchmal bedingt durch das Zahnen, manchmal wegen Alpträumen, manchmal wegen...oft wussten wir es einfach nicht.
Auf lange Sicht war dies die explosive Mischung: Schlafmangel, blanke Nerven, unstillbare Schreiattacken. Dies brachte uns als Paar manche Auseinandersetzungen über alltägliche Banalitäten ein.
So war es, ohne Ausnahme, jeden Tag, jede Nacht, in den ersten 20 Lebensmonaten unserer Tochter.
Vierte Phase - Berg auf (4 Monate)
Dass wir dennoch alles richtig machten, erhielten wir von unserer Tochter im Alter von 19. Monaten bestätigt, nachdem die vier ersten Backenzähne durchgebrochen waren.
Sie war wieder einmal etwas angeschlagen und fieberte hoch. Wie gewohnt, erwachte sie auch in dieser Nacht einige Male, aber das Fläschchen mit Reismilch wollte sie partout nicht. Zuerst dachte ich, eine ernsthaftere Krankheit sei im Anmarsch. Als sie in der dritten Nacht fieberlos war und das Fläschchen immer noch verweigerte, wusste ich, es ist geschehen: Die Nacht, die mir alle Mütter prophezeiten. Die Nacht, ab der dein Kind selbstbestimmt auf die nächtlichen Malzeiten verzichtet.
Einen Monat später erhielt ich das schönste Geschenk, dass ich mir in der Zeit wünschen konnte. In der Nacht auf meinen Geburtstag schlief meine Tochter von 22.00 Uhr bis 7.00 Uhr durch. Das allererste Mal in ihrem Leben. Von da an ging es bergauf. Es gab sogar Phasen, in denen sie fast zwei Wochen am Stück jede Nacht durchschlief. Im Gleichschritt wurde unsere Tochter tagsüber zufriedener, dennoch nicht weniger fordernd.
Ich kann in Worte gar nicht beschreiben, wie gut sich diese Zeit der Regeneration angefühlt hat. Wenn auch nur für kurze Zeit...
Fünfte Phase - Rückschlag (6 Monate)
Pünktlich zum zweiten Geburtstag unserer Tochter kam der Rückschlag. Meine Intuition sagt mir, dass dieser Rückschlag im Zusammenhang mit den entwicklungsbedingten, aber schrecklich überdimensionierten Wutanfällen stand, die uns ebenfalls ab dann herausforderten.
Eigentlich kamen diese intensiven Wutanfälle nicht unerwartet. Die sehr starke Persönlichkeit brachte unsere Tochter ja seit Geburt mit. Trotzdem weckte es viele Erinnerungen an die Zeit zuvor und brachte uns erneut an unsere Grenzen. Nach 20. Monaten Schreien, hatten wir unsere Tochter gerade mal vier Monate glücklich und zufrieden erlebt. Viel zu oft verfiel ich wieder in eine Gedanken-Frage-Spirale.
Die Wutanfälle waren dermassen heftig, dass unsere Tochter sich selbst verletzte, indem sie sich mit ihren Fingernägeln an Beinen, Bauch und Gesicht kratzte. Manchmal riss sie sich auch Haare aus. Es gab sogar eine Phase, in der sie sich derart tief in ihre eigene Wut hineinsteigerte und so lange und laut schrie, bis sie erbrach. Wie die Schreiattacken als Baby, waren diese Wutanfälle unstillbar. Mampi (wie sie inzwischen Mami und Papi nannte) waren chancenlos gegen den kleinen, wütenden Wutteufel. Wir mussten es einfach durchstehen. Auch in der Öffentlichkeit. Manchmal gelassen, manchmal weniger gelassen. Manchmal sind Mampi auch ausgerastet. Dieses Thema möchte ich aber in einem weiteren Beitrag "Autonome Kinder - selbstbestimmend und willensstark" beleuchten.
Durchschlafen war vorbei. Mittlerweile erwachten wir in der Nach zwar "nur noch" zwei oder drei Mal (was im Gegensatz zu früher Pipifax war), dafür ging jedes Erwachen mit einem Wutanfall einher. Manchmal vermuteten wir den Nachtschreck. Diesen konnten wir aber nur zweimal als solchen identifizieren. Einen Monat später begann unsere Tochter wieder nachts Milch zu trinken. Bei einer Routinekontrolle beim Kinderarzt wurden wir darauf hingewiesen, dass wir das nächtliche Fläschchen sogleich wieder verbannen sollten. Inzwischen wurde ich durch solche Ansagen nicht mehr verunsichert. Klar, ich war genervt, dass unsere Tochter nachts wieder das Fläschchen verlangte. Aber wenn sie es braucht, dann braucht sie es eben. Sie wird wohl am ehesten wissen, wie sie ihre nächtlichen Wutanfälle am besten in Schach halten konnte. Aus diesem Grund haben wir keine Anstrengungen unternommen, die nächtlichen Mahlzeiten zu unterdrücken. Diesen Aufwand und die damit verbundene Energie schenkten wir uns für andere Herausforderungen.
Mit 27. Monaten kam der erste der vier letzten Backenzähne. Und da wusste ich, dass wir nicht mit einer verbesserten Schlafsituation rechnen konnten, bis der allerletzte Zahn durchgebrochen ist. Im Gegenteil wir waren uns bewusst, dass wir wieder sehr harte Nächte vor uns hatten. Und trotz dieses Bewusstseins war jede einzelne Zahndurchbruch-Nacht wieder ein Horrorerlebnis.
Sechste Phase - Schlafen mit Eule
Nach dem Durchbruch des allerletzten Backenzahns vergingen noch einige Wochen, bis wir wieder sporadisch durchschlafen konnten.
Inzwischen wacht unsere Tochter nur bei Krankheit oder gelegentlich Alpträumen auf. Oft stapft sie dann selbständig von ihrem Bett herüber ins Familienbett und kuschelt sich zwischen Mampi ohne, dass Mampi aufstehen muss. Mami erwacht zwar jedes Mal, aber dies tut absolut nichts zur Sache. Papi schläft meistens ungeachtet durch.
Der wenige Schlafbedarf von neun bis zehn Stunden hat sich seither nicht verändert. Ein Wenigschläfer bleibt (meistens) ein Wenigschläfer auf Lebzeiten. Neuerdings hat sich aber herauskristallisiert, dass unsere Tochter nach Papi kommt und eine ausgeprägte Eule ist. Eine Eule ist ein Abendmensch. Ohne weiteres kann sie bis Mitternacht spielen und schläft dann entsprechend morgens gerne lang (sprich bis etwa 9.00 Uhr).
Auch wenn Mampi Vielschläfer sind und immer noch etwas mehr Schlaf vertragen würden als ihnen jetzt zur Verfügung steht, ist es für unseren Alltag optimaler, eine weitere Eule statt einer Lerche zu haben. Dass wir keine Frühaufsteher sind, hat unsere Tochter wohl vererbt bekommen.
Juli 2021: Nachtrag zu Schlafen mit Eule
Nun ist über ein Jahr vergangen seit ich diesen Text verfasst habe. Die Phase, in der unsere Tochter im eigenen Bett einschlief und anschliessend nachts selbstständig zu uns ins Bett "watschelte", dauerte genau einen Monat. Dann plötzlich entwickelte sie eine Angst, nachts alleine in unser Zimmer zu laufen und begann wieder zu schreien. Da unser 2,7m-breites Familienbett noch immer in "Betrieb" war, entschieden Mampi, dass wir unsere Tochter im Familienbett in den Schlaf begleiten, um keine nächtlichen Eskapaden zu veranstalten. Seither ist es für uns Drei stimmig. Wir geniessen die ruhigen Nächte und sind glücklich so entschieden zu haben. Doch es wird bestimmt die Nacht kommen, in der unsere Tochter nicht mehr bei uns schlafen möchte und ich spüre schon jetzt, dass ich diejenige sein werde, die das Loslassen lernen muss.
Impuls
Ehrlich geschrieben, waren dies die schlimmsten 20 Monate meines Lebens. Am meisten kämpfte ich mit der Ungewissheit, wie lange diese Schlaflosigkeit andauern wird. Ich bin überzeugt, wenn ich mit Sicherheit gewusst hätte, wann dies ein Ende nehmen würde, auch wenn es noch so weit in der Zukunft läge, hätte ich viel besser damit umgehen können. Ich wusste unser Kind ist kerngesund. Aufgrund unserer Situation haben zig Fachpersonen ihren Gesundheitszustand immer wieder überprüft. Obschon ich verzweifelt über die Gesamtsituation war und für meine Ratio unbedingt eine Erklärung gebraucht hätte, warum unsere Tochter so viel schrie und wenig schlief und ob womöglich einen Zusammenhang bestünde, war ich jedes einzelne Mal unendlich dankbar, dass gesundheitlich nichts festgestellt werden konnte. Dennoch, die Frage nach dem Warum liess mir selten Ruhe.
Allerdings musste ich auch hier lernen, dass Akzeptanz der Schlüssel ist: Das Kind so anzunehmen wie es ist. Nicht dem Warum nacheifern. Erst recht keine Vergleiche mit anderen Kindern ziehen. Ich verabschiedete mich vom Schlafprotokoll, welches ich in der Hoffnung irgendwann irgendein Schlafmuster zu erkennen Monate lang minutiös führte. Solche Aufzeichnungen verlocken nur sich zu sehr mit dem Gestern zu beschäftigen und daraus mögliche Szenarien für das Morgen abzuleiten (die dann allemal nicht eintreffen). Gestern ist Vergangenheit und Morgen ist Zukunft. Die Vergangenheit kann man nicht ändern und die Zukunft nicht voraussagen. Gerade in der Phase schlafloser Kindernächte ist es wichtig im Hier und Jetzt zu leben. Überstandene Nächte zu analysieren, um daraus zu prognostizieren, wie Kommende sein könnten, ist sinnlos. Es frisst bloss rare Energie, die besser für anstrengende Nächte gespart werden sollte.
Mir persönlich half es, jeden Morgen aufzustehen und mir vor dem Spiegel selbst zu gratulieren, dass ich die Nacht bewältigt habe. Ich führte mir vor Augen, dass ich mit jeder Nacht dem Ende ein weiteres Stück näher komme. Anschliessend fragte ich mich, wie es mir in diesem Moment geht. Ohne dabei an gestern oder morgen zu denken. Einfach in sich hineinhorchen und das JETZT spüren. Den gegenwärtigen Moment abzufragen, half mir neue Energie für das Bevorstehende zu sammeln.
Gerne möchte ich an dieser Stelle einen schönen Satz aus einem meiner Lieblingsbücher zitieren:
"Versuche, deine Situation nicht als ein Problem zu sehen, das dir Angst macht, sondern als eine MÖGLICHKEIT, die dir Hoffnung gibt."
aus "Der kleine Buddha: Auf dem Weg zum Glück" von Claus Mikosch.
Im Übrigen gab es mir Halt immer und immer wieder in den Büchern zu lesen, die ich ganz unten im Beitrag aufgelistet habe. Während meinen berüchtigten Gedanken-Frage-Spiralen rufe ich mir stets in Erinnerung, dass der Kinderschlaf unserer Tochter ganz normal und nicht zu hinterfragen ist.
An alle Eltern, die JETZT gerade ähnliche Kinderschlafgeschichten durchmachen:
Es ist hart. Unbestritten hart und bringt Euch an Eure Grenzen. Es kann und soll auch nicht schöngeredet werden. Ich kann Euch nachfühlen.
Versucht herauszufinden, was Euch Energie gibt - egal was es ist. Nehmt jede angebotene Hilfe an, die für Euch persönlich stimmt. Auch wenn ihr es in der Akutsituation nicht glauben und irgendwann auch nicht mehr hören könnt:
Es wird besser - irgendwann - bestimmt.
Letztlich könnt ihr stolz sein, wie ihr dabei unbewusst an eurer eigenen Resilienz arbeitet.
Herzlichst
Nadine
Quellenangabe von Bücher und weiterführende Links/Bücher:
Geschrieben: 30. Januar 2020
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